Geistlicher Impuls zum Passions-Altar in der St.-Petri-Kirche („Halepaghen-Altar“)
Und er aß mit ihnen und trank mit ihnen, und als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg.
So endet das Geschehen, das wir am Gründonnerstag traditionell als letztes Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern bedenken. Noch einmal hat Jesus es sich mit seinen Jüngern gemütlich gemacht – ein festlich geschmückter Saal, Liegen mit Kissen, auf denen man ein leckeres Essen einnimmt...
Wer in der Bibel an dieser Stelle weiterliest spürt, wie sich dann aber die Atmosphäre ändert: Jesus und die Seinen gehen hinaus in die Nacht. Die Jünger schaffen es nicht dem Wunsch ihres Meisters zu entsprechen und schlafen ein, Jesus ringt derweil mit der Angst und betet. Bald schon kommt auch der Verräter mit der bewaffneten Schar. Ein verlogener Kuss, und Jesus wird abgeführt wie ein Verbrecher.
Eben noch war alles so schön, so friedlich, und auf einmal schlägt die Stimmung um. Was jetzt kommt erzählt nur noch von Folter und Schmerz und schließlich von einem qualvollen Tod. In fünf Bildern sind diese letzten Ereignisse im Leben Jesu auf dem sog. Halepaghen-Altar in unserer Kirche dargestellt. Unvermittelt und mit einer aufs wesentliche konzentrierten Direktheit konfrontieren die Bilder den Betrachter mit den letzten Stationen im Leben Jesu: Er wird gegeißelt und mit einer Dornenkrone gequält, er muss sein schweres Kreuz den steinigen Weg zur Kreuzigungsstätte tragen, stirbt am Kreuz und wird schließlich ins Grab gelegt.
Die Passion, das Leiden Jesu ist unerbittlich. Für viele ist die Passionszeit deshalb auch eine Zeit, mit der man sich nur ungern auseinandersetzt. Wann haben Sie zum letzten Mal die komplette Passionsgeschichte gehört oder gelesen?
Wir wollen es schön haben, Spaß haben, das Leben ist kurz, darum nimm mit, was Du an Spaß und Geselligkeit kriegen kannst – für viele ist das inzwischen zum Lebensmotto geworden.
In diesem Jahr spüren wir allerdings mehr als deutlich, wie schnell und wie unsanft man aus der Wohlfühlzone gerissen werden kann. „Shut-down“ – so vieles, was bisher völlig undenkbar war, ist plötzlich Realität. Schluss mit der fröhlichen Gemeinschaft, hinein in die Einsamkeit. Für viele bringt diese Situation große Sorgen und Leid. Und immer wieder quälen die Fragen: Wie lange noch? Und was kommt dann eigentlich?
Die Orgelmusik, die Enno Gröhn zu unserem Passionsaltar und seinen Bildern improvisiert, beginnt mit einem scharfen Schnitt. Sie zerschneidet die Ruhe in unseren Ohren mit unerwarteten Tönen. Sie spielt mit den Klängen der Gefahr, der Angst und vermeintlichen Sicherheiten. Ungewöhnliche Harmonien, martialisch, nach oben schrill nach unten grummelnd. Sie suchen nach Kraft und scheinen manchmal regelrecht in sich zusammenzusinken. Klänge, die die Grenzen der Register überschreiten, manchmal merkt man erst im Laufe der Zeit durch die Veränderung des Klanges, das Register gar nicht ganz gezogen waren und nun langsam immer mehr mit immer schrägeren Klängen verstummen. Unmöglich herauszufinden, was da alles zusammenklingt. Aufschreie, Stimmen, die sich überlagern, Stöhnen… - ich versuche herauszuhören, was da alles zusammenkommt. Sphärische Klänge, wie aus einer anderen Wirklichkeit – und doch entstammt die Musik dem hier und jetzt, denn auch die Passion im Jahre 2020 überschreitet Grenzen und konfrontiert uns unerbittlich mit dem bisher Undenkbaren. Wir suchen nach dem Weg hinaus, stellen immer mehr Fragen – doch wer hat Antworten?
Eine Melodie schleicht sich hinein in die unwirtliche Klangwelt. „O Haupt voll Blut und Wunden“ – die Melodie erscheint wie eine schemenhafte Gestalt im Nebel – endlich etwas Vertrautes. Dankbar höre ich diese Klänge, es ist als rufe der Gemarterte mir zu: „Sequere me! – folgt mir nach, denn ich weiß, wo es langgeht.“
Tatsächlich ist der Halepaghen-Altar nicht in erster Linie ein Passionsaltar, sondern ein Nachfolge-Altar. Er ruft auf, sich im Leiden und in der Angst nicht im dichten Nebel der Sorgen und des Schmerzes zu verlieren. Und verweist auf den, der einen Weg durch die Sorgen und das Leid kennt, und lädt den Betrachter ein, nach dem Ausschau zu halten, der uns in allem, was geschieht niemals allein lässt: Jesus, der Christus.
Wo er hinführen wird, das lässt der Altar mit seinen Bildern scheinbar offen. Wer ihn aber an seinem ursprünglichen Ort, am südlichen Chorpfeiler in der Abfolgerichtung der Bilder von rechts oben nach links unten gelesen hat, konnte, wenn er nur ein Stück weitergeschaut hat, auf den Wilkens-Altar blicken und dort noch einmal das Mahl und darüber den Gekreuzigten sehen und schließlich dann ganz oben aber auch den Auferstandenen, der den Drachen als Symbol des Leides mit Füßen niedertritt.
Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. (Jer 29,11)
Die letzten Klänge der Improvisation lassen diese hoffnungsvolle Zukunft anklingen. Wie gut diese helle Harmonie tut! Ich wünsche uns allen, dass Sie uns leitet auf dem Weg durch diese Tage hindurch wie ein Licht am Ende der Dunkelheit, mit dem Jesus uns den Weg leuchtet zur Auferstehung.
Pastor Michael Glawion